Melanie Wolfers ist promovierte Theologin, Philosophin, Ordensfrau der Salvatorianerinnen und Podcasterin. Ihr Bücher „Entscheide dich und lebe“, indem es um das Thema Veränderung geht, und ihr neues Buch „Zuversicht“ sind erfolgreiche Buchtitel. Sie selbst bezeichnet sich als Mutmacherin und ich war neugierig und habe mich mit ihr über Zuversicht, Hoffnung und Resilienz unterhalten.
I: Ich habe Sie eingeladen, weil ich mich, wie in meinem letzten Interview, z. Zt. mit den psychischen Auswirkungen von Corona beschäftige. Mich bewegt, wie man Zuversicht vermitteln und Resilienz fördern kann, um gut durch diese herausfordernde Situation zu kommen.
B: In meinem Buch „Zuversicht“ erzähle ich die Geschichte vom schwarzen Punkt auf einem weißen Blatt Papier. Ein Psychologieprofessor kommt in ein Seminar und will mit den Studierenden einen überraschenden Test schreiben. Auf dem weißen Testblatt ist ein schwarzer Punkt abgebildet. Er gibt ihnen die Aufgabe, in zehn Minuten schriftlich zu beschreiben, was sie sehen. Die Studenten wissen zunächst nicht, was sie damit anfangen sollen. Dann liest der Professor die kurzen Statements vor, schmunzelt am Ende und sagt: „Sehen Sie?, ich wollte mit Ihnen einfach diese Übung machen, bei der etwas ganz Typisches deutlich wird: Alle haben den schwarzen Punkt beschrieben, niemand hat jedoch etwas über das weiße Blatt Papier geschrieben. Und so ähnlich ist es im Leben.“
Wir sind häufig auf das Negative fixiert
Häufig konzentrieren wir uns nur auf die dunklen Flecken, nehmen nicht wahr, was uns gegeben ist, um unser Leben zu gestalten, zu genießen und uns an ihm zu freuen. Das verdeutlicht in eindrücklicher Weise den Negativfokus unseres Gehirns, was auch durch Studien vielfach nachgewiesen worden ist.
Unser Gehirn ist sensibel für Gefahren
Es ist evolutiv sinnvoll, dass unser Gehirn gefahrensensibel ist. Dadurch kommt es zu einer, wie die Forschung sagt, Negativitätsverzerrung, zu einem Negativitätsbias. Und wer kennt das nicht; man sieht nur Negatives: heute ist es hier mal wieder grau, eigentlich wollte ich Skiurlaub machen und die Schlüsselblumen wachsen auf der Wiese. Man konzentriert sich primär auf die negativen Dingen, und das Positive, was es trotz Krisenzeiten auch gibt, gerät aus dem Blick. Das schwächt die Zuversicht.
I: Was tut man gegen die Negativfixierung, wenn man morgens sorgenvoll aufwacht?
B: Sie benennen gerade einen ganz wichtigen Augenblick im Laufe des Tages. Der Tagesbeginn und das Tagesende haben eine große Relevanz dafür, wie wir unseren Alltag leben. Ich bringe gerne das Bild von den zwei Türangeln. Sie symbolisieren den neuen und den vergangenen Tag. Es ist sinnvoll, eine gute Kultur zu entwickeln, wie man in den Tag startet und ihn abschließt. Am Morgen kann zum Beispiel hilfreich sein, nicht als Erstes das Handy anzuschalten und die aktuellen Corona-Zahlen zu lesen oder zu schauen, was in Russland oder in der Sahel-Zone derzeit passiert, sondern sich ein wenig Zeit zu nehmen
Dadurch weitet man den Blick und macht Platz für andere Gedanken. Ich werde mir bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ich lebe, dass ich ein Dach überm Kopf habe, dass ich im Großen und Ganzen gesund bin. Was immer hilft, ist, zehn Minuten früher aufzustehen und sich diese Zeit zu nehmen. Vielleicht stelle ich mich nochmal drei Minuten ans offene Fenster und atme die frische Luft ein oder ich nehme mir Zeit für einen Kaffee, um mit dem Partner oder den Kindern in Ruhe zu plaudern. Es ist gut, etwas zu tun, was mir hilft, den Blick zu weiten und wahrzunehmen, dass ich jetzt lebe, dass ich atme, dass ich fühle, dass ich mir meiner Selbst gewiss bin. Es kann auch hilfreich sein, sich einfach nur bewusst hinzustellen und mit den Füßen den Kontakt zum Boden zu spüren und sich zu sagen: „Ja, hier stehe ich und ich bin so groß, wie ich groß bin und ich gehe in diesen Tag hinein, der mir gegeben ist“.
I: Selber die Tür zum Tag öffnen und bewusst in den Tag starten schafft Ruhe und Kraft.
B: Genau. Dass man nicht so reinstolpert und schon in den To-do-Listen oder in den Sorgenschleifen drin ist.
I: Sorgenschleifen sind ein gutes Stichwort. Zur Zeit scheint es, als gäbe es neben Corona nur weitere belastende Themen: Globalisierung, Digitalisierung und Klimaangst. Besonders die mir geschilderte Klimaangst hat mich schockiert. Wie geht man damit am besten um?
B: Und was sagen Sie als Mutter? Was hilft?
I: Ich bin ein sehr optimistischer Mensch. Ich glaube an das Gute und auch, dass wir uns gemeinsam ein Stück weit zum Guten hin selber entwickeln können. Und ich glaube an die Kraft der Natur. Wenn wir an unserem Verhalten etwas ändern, dann wird es funktionieren.
Man kann das Thema aktiv angehen und sich z.B. einer Gruppe anschließen.
B: Ich glaube auch, dass das viel ausmacht. Vor kurzem habe ich mit einer, in Österreich sehr bekannten, Klimaaktivistin gesprochen. Es gibt eine Studie der Wirtschafts-Uni Wien bei der man geprüft hat, welche Faktoren dazu beitragen, dass ein Land striktere Klimagesetze beschließt. Das war sehr interessant und es hat sich gezeigt, dass es völlig egal ist, ob es rechte oder linke Regierungen sind. Dort, wo strengere Klimagesetze beschlossen wurden, sind viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Da hat die Jugend wirklich etwas bewegt. Angefangen mit Greta Thunberg, die mit ihrem Pappschild im nassen Schweden vor dem Parlament saß. Stellen Sie sich das vor! Das ist bestimmt ziemlich schnell feucht und pappig geworden. Dennoch hat sie sich hingesetzt und hat etwas in Bewegung gebracht, was auf eine ganz große Resonanz stieß. Das hat Macht.
Die eigene Wirksamkeit spürt man, indem man sich engagiert, sich beteiligt und mit anderen zusammenschließt. Das hilft, Ängste zu überwinden.
I: Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Hoffnung und Zuversicht?
B: Ich verwende in meinem Buch beides gleich. Hoffnung und Zuversicht stehen für eine innere Haltung, die ich vom Pessimismus und von einer optimistisch naiven Grundhaltung abgrenze. Ein naiver Optimist geht davon aus, dass eh alles gut werden wird. Schwierige Dinge werden ausgeblendet und man rechnet damit, dass alles gut wird. In Österreich würde man sagen: „es ist eh immer alles gut gegangen, es wird sich auch jetzt wieder ausgehen“. Hier ist es wichtig zu unterscheiden, dass Zuversicht eben nicht meint, die Schwierigkeiten auszublenden und darauf zu hoffen, dass irgendjemand einen schon retten wird.
Zuversicht ist keine naive Hoffnung auf Rettung
Zuversicht geht vielmehr mit der nüchternen Analyse und Wahrnehmung der Schwierigkeiten einher. Ich erzähle gerne die Parabel von den drei Fröschen, die recht bekannt ist. Da gehen drei Frösche auf Wanderschaft und fallen in einen Krug voller Sahne. Der Rand des Krugs ist ganz hoch und sie kommen nicht raus. Und der erste Frosch denkt optimistisch: „Oh ja, jemand wird uns schon irgendwann retten“. Schlabbert ein bisschen an der Sahne, wartet und wartet, niemand kommt, er geht unter und ersäuft. Der zweite Frosch schaut den hohen Rand an und sagt: „Ach Gott, sich hier anzustrengen, hat überhaupt keinen Sinn“. Hört auf zu strampeln, geht unter und ersäuft ebenso. Der dritte Frosch sieht den hohen Rand und denkt: „Oh ha, hier hilft nur Strampeln.“ Und er strampelt und strampelt mit seinen kleinen Beinchen, bis die Sahne zu Butter geworden ist und er sich mit einem Sprung befreien kann. Ich finde diese Geschichte toll, denn sie verdeutlicht, was Zuversicht meint. Wir sind gewissermaßen alle in den Sahnetopf gefallen, als Gesellschaft und häufig auch persönlich. Ein zuversichtlicher Mensch, der die schwierige Lage sieht, sagt: „hier hilft nur strampeln“. Zuversicht ist eine der zentralen Kräfte, um zu strampeln. Ein zuversichtlicher Mensch nimmt die Schwierigkeiten und die Herausforderung der Situation wahr und ist darüber auch besorgt. Zuversicht geht ganz sicher auch mit Ängsten einher. Aber man lässt sich eben nicht von den Schwierigkeiten und den Ängsten lähmen.
Zuversicht bedeutet, sich nicht von Schwierigkeiten lähmen zu lassen
Man entdeckt Handlungsspielräume. Ein possibilistischer Mensch sieht selbst kleine Möglichkeiten und findet Schwung und Kraft, diese auch zu ergreifen. Hoffnung ist eine Art Spürsinn für das, was die die Zukunft an positiven Möglichkeiten mit sich bringen könnte. Die Kraft, das Eigene dazu beizutragen. Von daher unterscheide ich nicht zwischen Zuversicht und Hoffnung, sondern zwischen Zuversicht und blindem oder naivem, blauäugigem Optimismus.
I: Daran kann man arbeiten?
B: Genau. Zuversicht ist eben nicht eine Sache des Glückes oder der Gene oder des Glaubens, dass das Leben es gerade so gut mit mir meint. Sie ist eine innere Haltung, um die ich mich tagtäglich neu bemühen kann. Es gibt viele kleine Stellschrauben, mit denen man versuchen kann, diese Kraft der Zuversicht zu stärken.
Zuversicht ist keine Sache des Glücks oder der Gene
I: Wie hilft es Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag verkraften müssen?
B: Zuversicht bedeutet nicht, angstfrei zu sein oder nicht auch mal Resignation zu spüren. Ich glaube, der Punkt ist: bleibe ich auf Dauer am Boden liegen, wenn mich das Leben in die Knie gezwungen hat? Oder finde ich Schritt für Schritt die Kraft, mich wirklich auch dem Elend zu stellen und eben auch neue, andere Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Jeder Mensch kann für sich hilfreiche Quellen finden. Eine wichtige Quelle der Zuversicht ist, sich zu bewegen, in der Natur zu sein. Zuversicht hat auch etwas mit der Präsenz im eigenen Körper zu tun. Es gibt viele Studien über die positive Wirkung der Natur, auch bei einer milden Depression zum Beispiel. Wir kommen aus der Natur, wir sind ein Element der Natur. Sie ist nicht nur Umwelt, sondern Mitwelt.
Kraft entwickeln durch den Kontakt zur Natur
Wenn ich wirklich mit meinen Sinnen wach in der Natur bin und nicht auf dem Handy rumdaddele oder mit Kopfhörern einen Podcast höre, sondern wirklich wach bin, dann kann ich eine Art von Verbundenheit spüren Dann spüre ich, was es heißt, lebendig zu sein, wenn der Wind auf der Haut spielt, ich den nassen Waldboden rieche, plötzlich einen Sonnenstrahlt sehe, der sich in der Pfütze widerspiegelt oder Vögel singen höre. Die Schweizer Forschungsgruppe Hoffnungsbarometer befragt seit Jahren regelmäßig Zehntausende von Menschen, was wichtige Quellen der Hoffnung für sie sind. An Nummer eins stehen tragfähige Beziehungen und Nummer zwei ist die Natur.
Ein tragfähiges Beziehungsnetzwerk ist eine große Kraftquelle
I: Dadurch sehen wir das große Ganze und nicht nur den kleinen Rahmen.
B: Ja, absolut.
I: In ihrem Buch „Zuversicht“ gehen Sie auch auf Erinnerungen in Bezug auf die Entwicklung von Zuversicht, ein. Warum sind Erinnerungen wichtig?
B: Ich erinnere mich an eine Beratungssituation, wo ich förmlich zusehen konnte, wie eine Frau sich in ihrem Erzählen aufrichtet. Sie erzählte von üblen Jahren, die zurücklagen, wo alles über ihr und ihrem Mann zusammenstürzte. In denen sie manchmal weder ein noch aus wussten, weil es beruflich und familiär sehr herausfordernd war. Sie erzählte davon, wie sie gemeinsam mit ihrem Mann dann doch diese Krise bewältigt hat. Es war so schön, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich in ihrem Erzählen förmlich sichtbar immer mehr aufrichtete und man den Eindruck hatte: ihr Vertrauen in sich und dem Leben gewachsen zu sein, wird allein dadurch kräftiger, dass sie von dieser überstandenen Krise erzählt.
I: Die Wahrnehmung der eigenen Ressourcen hilft Krisen zu überwinden.
B: Ja, genau. Eine solche Erinnerung legt Quellen frei, die geholfen haben, mit Schwierigkeiten umzugehen. Man gewinnt ein Erfahrungsrepertoire, auf das man dann zurückgreifen kann. Anstatt nur auf die jetzige Krise zu schauen, weitet sich wieder die Perspektive und man fühlt sich nicht mehr so als „armes Hascherl“, das dem Leben nicht gewachsen bin. Man spürt, da steckt auch Kraft in mir.
Hoffen ist Erinnern in die Zukunft hinein
Diese Erinnerung aus der Vergangenheit, wenn ich die in die Zukunft hinein erinnere, das ist Hoffnung.
I: Man staunt, welche Kräfte man mobilisieren kann.
B: Absolut. Es ist zu schade, dass man das manchmal aus dem Blick verliert. Wirft man ein kurzen spiritueller Blick darauf, dann findet man in der Bibel, dem Gründungsdokument des jüdischen und christlichen Glaubens, immer Erinnerungen an Heilserfahrungen. Wenn das Volk Israel in der Krise ist, heißt es immer wieder: „Ich, der Herr, dein Gott habe dich aus Ägypten herausgeführt.“ Also erinnere dich an die Erfahrungen, als du durch eine Krise durchgegangen bist und ein neues Land gefunden hast, wo Milch und Honig fließen, in der bildreichen Sprache gesprochen. Diese Erinnerungskultur ist eben auch für diesen jüdisch-christlichen Strang, gerade in Krisen, sehr wichtig: „erinnere dich, du warst irgendwie am Ende und bist durch Wasserfluten gegangen“. Oder in der Gefangenschaft, warst du in der Fremde, fern von deiner Heimat und bist herausgekommen.
Die Erinnerungskultur ist ein wichtiges Motiv, auch in der spirituellen Tradition.
I: Sprechen wir über andere Mittel, Kräfte in sich zu spüren. Sie zitieren u.a. den Schriftsteller Joachim Meyerhoff, der die Kraft des Schreibens thematisiert. Sie sagen, dass Schreiben Selbstermächtigung ist.
B: Es muss ja nicht für jeden das Schreiben sein. Ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht den Anspruch hat, ein Buch zu veröffentlichen. Schreiben ist so ähnlich, als wenn ich einer guten Freundin über das erzähle, was in meinem Inneren wabert. Es tritt damit nach außen und ich habe es formuliert. Und damit trete ich ein Stück in Distanz zu dem, was ich gerade in mir fühle. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich gerade einfach nur ängstlich bin, von Angst gepackt, oder ob ich schreibe: „Ich spüre Angst.“ Dann kann sich ein Spalt öffnen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem: Ich habe Angst oder die Angst hat mich. Und schreibend trete ich ein Stückchen in Distanz und kann reflektieren und deuten. Ich finde sehr stark, wie Meyerhoff nach dem erlittenen Schlaganfall seinen Transport ins Krankenhaus beschreibt. Und darauf kommt es an: Schreibt die Geschichte mich oder schreibe ich die Geschichte? Schreibt ein Schlaganfall mich? Bin ich jetzt nur noch sozusagen diktiert von dem, dass ich einen Schlaganfall habe, oder führe ich mein Leben und ich habe einen Schlaganfall erlitten? Erzähle ich die Geschichte oder erzählt die Geschichte mich? Und damit passiert eigentlich ein Subjektwechsel. Oder sagen wir mal so: aus der Opferrolle hinein in die Rolle der Deutenden, der Wahrnehmenden und damit auch der gestaltenden Person.
Raus aus der Opferrolle in die Rolle der gestaltenden Person
I: Wie schafft man es, Vertrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit herzustellen?
B: Angst wird immer mit an Bord unseres Lebens sein. Gerade bei langfristigen oder wichtigen Entscheidungen ist es normal und ist auch ziemlich gesund, dass sie mit Unsicherheit und Angst einhergehen. Dadurch werden wir gewarnt, dass man nicht leichtsinnig irgendwelche wichtigen Alternativen oder Argumente übersieht. Man wird vor Leichtsinn und Tollkühnheit gewarnt. Angst ist grundsätzlich ein ganz wichtiges Empfinden und Warnsignal. Der Punkt ist, wenn sie zu mächtig wird und einen zum Beispiel dazu verleitet, jeglichen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen und permanent die Sachen aufzuschieben oder immer auf Nummer sicher zu gehen, dann ist Angst kein guter Ratgeber. Was kann helfen, in Entscheidungsfreudigkeit zu kommen? Zum einen bietet unser Alltag ziemlich viel Trainingsfeld, indem wir bewusst die kleinen Entscheidungen des Alltags wahrnehmen und uns nicht stundenlang dran aufhalten. Ein ganz einfaches Beispiel: Ich stehe nicht eine Viertelstunde vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich anziehe. Oder ich überlege nicht stundenlang: „Gehe ich heute Abend ins Kino oder treffe ich mich mit einer Freundin“? Am Ende bleibe ich zu Hause, weil ich mich nicht entscheiden konnte. Sondern nein, ich wage es. Das ist wie ein Muskel, den man trainieren kann.
Entscheidungsfähigkeit kann man trainieren
I: Sie sprechen in ihrem Buch den Unterschied zwischen Sinnsuche und der Suche nach dem Glück der positiven Psychologie an. Können Sie das einmal kurz erklären? Was ist der Unterschied und warum sind wir nicht unbedingt glücklicher, wenn wir immer nach Glück streben?
B: Ich habe da eine eigene Podcast-Folge zu gemacht, weil ich das wichtig finde. Ich denke, dass die positive Psychologie ganz Wichtiges ins Feld gebracht hat. Therapeutische Prozesse werden nicht nur negativ orientiert betrachtet, sondern ressourcenorientiert. Da ist ganz viel Gutes passiert. Und die positive Psychologie greift eigentlich auch das alte Menschheitswissen aus der Tugendethik auf. Der Psychologe Martin Seligmann hat zwölf Tugenden entwickelt. Das sind klassische Tugenden der Antike dabei. Durch die Ressourcenorientierung sieht man: „Was kann der Mensch“? Auf der anderen Seite kann die positive Psychologie zum Terror der Stärke, der guten Laune werden. Ist man nicht letztlich dann auch selber Schuld, wenn man nicht gut drauf ist? Man hat es doch in der Hand, gut drauf zu sein. Und das führt dahin, dass alle Unglücklichen gleich dreifach unglücklich sind. Zum Ersten leiden sie. Zum Zweiten müssen sie sich Vorwürfe anhören: „Warum tust du nicht genügend für dein Glück“? Und drittens fragen sie sich noch: „Was mache ich eigentlich gerade falsch? Alle sind gut drauf, nur ich nicht.“ Das Leben besteht eben nicht nur aus positiven Emotionen und Höhepunkten. Und das ist die Gefahr, die ich in der positiven Psychologie und in unserem gesellschaftlichen Verständnis von Glück sehe.
Das Leben besteht nicht nur aus Höhepunkten- zum Glück gehören auch Sorgen
Und so ist das Leben nicht. Zu unserem Leben gehören auch die Sorgen und Probleme. Zu unserem Leben gehört der graue Alltag, Trauer, Enttäuschung, Ohnmacht, Angst und Verzweiflung. Es ist wichtig, dass das auch ein Lebensrecht hat und dass es zur Fülle des Lebens gehört. Das meint eigentlich klassisch Glück; dass zu einem umfassend guten und gelungenen Leben eben auch das breites Spektrum von Emotionen gehört.
Zu einem guten und gelungenen Leben gehört ein Spektrum der Emotionen
Es ist schon interessant, dass jetzt in den letzten Jahren, die ja durchaus krisenhaft in unserer Gesellschaft sind, Viktor Frankl, der die Sinnfrage in die Psychotherapie eingebracht hat, ein Revival feiert. Man kann etwas als sinnvoll bejahen und darin einen Frieden und Sinn finden.
Frieden und Sinn finden sind zentrale Quellen der Zuversicht
Das ist eine der zentralen Quellen von Zuversicht, auch wenn man traurig ist oder es schwer ist. Ich habe mit einem Mann gesprochen, dessen Frau seit dreißig Jahren psychisch wirklich krank ist. Und doch leben sie zusammen und es ist gut. Er sieht einen Sinn darin, diese Beziehung gut zu gestalten. Das ist wahrhaftig nicht immer einfach. Aber es ist sinnvoll und deswegen brennt er nicht aus. Oder nochmal Greta Thunberg. Hätte die an ihre Erfolgsaussichten gedacht, hätte sie sich nie mit ihrem Pappschild vor das schwedische Parlament gesetzt. Aber sie hat ihren Einsatz einfach als sinnvoll erachtet, ungeachtet dessen, ob dieser Einsatz von Erfolg gekrönt sein wird oder nicht. Und das gibt ihr und den Vielen die Kraft. Und deswegen ist Sinn eine viel tragfähige und tiefere Ressource von Zuversicht auch in Zeiten, wo dunkle Emotionen vorherrschen
I: Ich habe einmal die israelische Soziologin Eva Illouz kennengelernt. Sie hat auch ein kritisches Werk zur positiven Psychologie veröffentlicht.
B: Ja, ich glaube, das kann zu einer Ideologie der Sieger verkommen. Also alle, die es nicht gut im Leben geschafft haben, haben selber Schuld. Eigentlich bist du deines Glückes Schmied. Und das ist ja brutal und das stimmt nicht.
I: Können Sie zum Abschluss noch ein Satz sagen, der Mut macht?
B: Gerne. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch innerlich sehr viel reicher ist als er ahnt. Und deswegen lohnt es sich, immer wieder die Tuchfühlung mit sich selbst zu suchen und neugierig wohlwollend ins eigene Leben und in das konkrete Leben, in das ich eingebettet bin, zu schauen.
I: Vielen Dank. Das ist wirklich ein sehr schöner Satz. Vielen Dank für das schöne Gespräch.
B: Ja, hat mir Freude gebracht, Frau Hakvoort.
Mehr über Melanie Wolfers unter www.melaniewolfers.de
Ihr Podcast „GANZ SCHÖN MUTIG – Dein Podcast für ein erfülltes Leben“ läuft auf allen gängigen Apps, Youtube und ihrer Homepage (www.melaniewolfers.de/podcast)