Warum hält man freiwillig die Luft an und nimmt monatelang an einem harten Tauchtraining im Roten Meer teil? Das ist mir trotz der begeisterten Schilderungen meiner Tochter bisher unbegreiflich gewesen. Aber wer keine Ahnung hat, kann nicht mitreden, denke ich mir und reise (mit einem negativem Coronatest und viel Neugierde im Gepäck) nach Sharm-el-Sheik. Per Taxi geht meine nächtliche Reise weiter: auf dem Weg nach Dahab, dem Ziel meiner Reise, fahren wird durch das erhabene, mondbeschienene Sinai Gebirge. Mit weniger müden Augen könnte es die pure Romantik sein.
Die ersten Taucherfahrungen mache ich unter Anleitung von Morra, meinem freundlichen und engagierten ägyptischen Tauchlehrer. Wie viele Menschen in Dahab umgibt ihn eine entspannte und zufriedene Aura. Nun will er mich mit der Welt des Tauchens ohne Sauerstoffflasche vertraut machen. Ich bin eine gute, geübte Schwimmbad-Schwimmerin, im Wasser fühle ich mich wohl, das Meer jedoch ist eine Naturgewalt, vor der ich Respekt habe. Vertrauensvoll beginne ich meine erste Übung mit Schnorchel und Brille, eingepackt in einen warmen und geschmeidigen Taucheranzug.
Ich lerne zunächst, nach ersten Trockenübungen, meinen Körper mit entspannter Atmung so mit Sauerstoff zu versorgen, dass ich einige Zeit unter Wasser bleiben kann. Es ist März, das Wasser ist noch frisch und wie fast immer weht ein starker Wind am Roten Meer, als ich meine ersten Versuche mache. Morras Enthusiasmus, mir die Schönheit dieses eleganten, fast mühelos wirkenden Sports zu vermitteln, ist groß und ich vertraue ihm. Jedem Interessenten empfehle ich dazu das Video „One breath around the world“ von Guillaume Néry. Das Video dient nur der Inspiration, für Anfänger ist eine Nachahmung nicht zu empfehlen.
Als Kind der 80er Jahre ist meine erste Assoziation: „The big blue – Im Rausch der Tiefe“. Wie im Wahn werden die eigenen Grenzen erbarmungslos überschritten – der Mythos dieser Dekade hängt dem Freediving (auf Deutsch: Apnoetauchen) ein wenig nach. Er passt aber gar nicht zu den sanften Methoden, die man heute anwendet, um sich im Element Wasser eher wie zuhause als wie ein Eindringling zu fühlen.
Scuba Diver haben spezielles Equipment, um sich beim Tauchen mit Sauerstoff zu versorgen. Für einen längeren Aufenthalt unter Wasser ist eine solche Ausrüstung alternativlos. Die Ausrüstung des Freedivers ist lediglich eine Taucherbrille mit Schnorchel, seine Lunge sowie eine Mischung aus Erfahrung und Instinkt. Auf der Seite des internationalen Verbands für Freediving „AIDA“ erhalten Interessierte sehr ausführliche Informationen zum Thema
Zunächst machen Morra und ich eine Übung namens „static“. Dabei liegen wir im Wasser und atmen bewusst in den Bauch. Das funktioniert gut und ich schaffe es anschließend problemlos, die Luft knapp zwei Minuten lang anzuhalten. Danach geht es das erste Mal in die Tiefe. Der Druckausgleich unter Wasser ist dabei meine erste größere Herausforderung. Selbst erfahrene Freitaucher bestätigen, dass es eine Weile dauert, bis der Ausgleich gelingt und man sich unter Wasser wohl fühlen kann. Wie immer gilt auch hier: Übung ist alles!
Die Atemtechniken, die Freediver nutzen, um sich zu entspannen und ausreichend Sauerstoff aufzunehmen, basieren auf den Pranayama Atemtechniken des Yoga beschreibt die Zusammenführung von Körper und Geist. Atmen wir bewusst, entspannt und gleichmäßig in den Bauch, schaffen wir Raum für die Organe im Bauchraum und aktivieren den Parasympatikus. Als Parasympathikus bezeichnet man den Teil des vegetativen Nervensystems, der für Entspannung sorgt. Im Alltag macht man sich diesen Fakt zu selten bewusst und atmet „flach“ in die Brust.
Alles dreht sich folglich um Atemtechniken. Laut Stefan Schneider vom Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaften (Sporthochschule Köln) können wir mit diesen Atemtechniken sogar unser emotionales Gleichgewicht steuern. Der präfrontale Kortex ist der Teil unseres Gehirns, der nicht nur die Persönlichkeit beinhaltet und in dem Entscheidungen getroffen werden, er steuert auch das emotionale Gleichgewicht. Schneider glaubt, dass man über die Atmung einen großen Einfluss auf diesen Teil des Gehirns nehmen kann.
Tatsächlich beschäftige ich mich während meiner Zeit in Dahab nicht nur mit dem Tauchen sondern mache auch eine hochemotionale Erfahrung während einer Atemmeditation mit Marcus Packer (dazu mehr in einem eigenen Artikel). Die Meditationsübung besteht aus aktiver Bauchatmung und Hyperventilation – eine tiefgreifende Erfahrung, die mir zeigt, welche Auswirkungen Atmung auf unser Wohlbefinden haben kann. Das hat auch der amerikanische Autor und Journalist James Nestor in seinem Bestseller „Breath“ beschrieben.
Unsere Atmung nimmt Einfluss auf unser Immunsystem und wirkt sich auch auf unser Selbstbewusstsein aus. Die Atemmeditation unter Anleitung ist eine Erfahrung, die unsere Atmung und ihre Kraft erlebbar macht. Man ist dabei jedoch nicht auf Anleitung angewiesen: auch im Alltag kann man jeden Tag innehalten und sich für einige Minuten bewusst auf seine Atmung konzentrieren. Damit schafft man einen klaren Geist, erlangt innere Ruhe und schöpft neue Kraft.