Bin ich glücklich? Vom individuellen Glück zu einer besseren Gesellschaft
Eine Begegnung mit Buthan und dem Glücksstandard von Dr. Ha Vinh Tho, erster Minister Buthans für „Bruttonationalglück“
Voller Begeisterung zeigte mir meine Tochter vor einigen Wochen das Buch „Der Glücksstandard“ von Dr. Ha Vinh Tho. Sofort wurden mir die Erinnerungen an meinen ersten Aufenthalt in Buthan im Jahr 2017 ins Gedächtnis gerufen. Es war ein Besuch, auf den ich denkbar schlecht vorbereitet war. Zwar hatte ich ein wenig über dieses kleine Land am Fuße des Himalayas gelesen, die Tatsache, dass man es nur in Begleitung eines lokalen Guides bereisen durfte, sorgte jedoch für eine gewisse Trägheit. Gleich zu Beginn meiner Reise sollte sich das als großer Nachteil für mich entpuppen, denn: es war Festivalzeit! Jedes Jahr in dieser Zeit kann man in Buthan an verschiedenen Orten bunte und fröhliche Spektakel mit traditionellen Tanzaufführungen erleben. Unter den Einwohnern Buthans herrscht große Begeisterung für diese lokalen Festivals. Um die genaue Bedeutung der einzelnen Darbietungen zu verstehen blieb bei meinem Festivalbesuch zunächst keine Zeit – ich war aber genug damit beschäftigt, die Schönheit der aufwendigen Kostüme zu bestaunen und die Fröhlichkeit der Menschen zu spüren und aufzunehmen. Die Hintergründe wollte ich im Nachhinein verstehen lernen.
Auch ohne umfangreiche Vorbereitung hatte ich von Buthans Bruttonationalglück sowie dem großem kulturellen Reichtum gehört und fragte mich, was mich vor Ort erwarten würde. Wirken die Menschen hier glücklicher als in unserer europäischen Heimat? Was genau ist Bruttonationalglück, wie wird es gemessen und mit welchen staatlichen Maßnahmen wird es gelenkt?
Antworten auf diese Fragen findet man bei Dr. Ha Vinh Tho, dem erster Minister Buthans für Bruttonationalglück und Autor des Buch „Der Glücksstandard“ (s. Blogbeitrag unter Bücher und Sehenswertes). Es war den Staatslenkern – allen voran dem König des Landes – nicht genug, den gesellschaftlichem Wohlstand durch das internationale Bruttonationalprodukt zu erfassen. Für sie spiegelt sich Glück und Lebenszufriedenheit nicht nur in der Erbringung einer wirtschaftlichen Leistung wider. Ihrer Überzeugung nach ist Glück ein nachhaltiger grundlegender Zustand, der sich nicht durch die Erfüllung materieller Wünsche oder dem Streben nach Macht und Einfluss einstellt. Vielmehr ist es das „eudaimonische Glück“ (griechisch: guter Geist), das Glück des guten Lebens, das schon Aristoteles als objektiven Begriff eines gelungenen Lebens betrachtet hat.
Bin ich glücklich und wie erforscht man Glück?
Einen wichtigen Beitrag zur Erklärung, wie Menschen nach Glück streben, hat der Psychologe Abraham Maslow geleistet, indem er menschliche Bedürfnisse ihrer Wichtigkeit nach in Form einer Pyramide geordnet hat. Zuerst stillen wir unsere grundlegenden Bedürfnisse nach Versorgung und Sicherheit, bevor wir, auf der Suche nach unserem persönlichen Glück gehen, soziale Beziehungen aufbauen und für einander sorgen können. Das sind die Bausteine auf dem Weg zur Selbstverwirklichung an der Spitze der Pyramide, der Gipfel des persönlichen Glücks.
In Buthan sorgt man durch staatliche Maßnahmen nicht nur für die Grundversorgung der Bevölkerung durch Umweltschutz und eine nachhaltige und faire sozialökonomische Entwicklung. Man fördert die kulturelle Vielfalt und pflegt traditionelle Aktivitäten, wie beispielsweise das Bogenschießen. Wie erlebt man dies als Besucher des Landes? Funktioniert die staatliche Glücksverordnung? Ich persönlich habe mich bei meinem Besuch als Gast in einem glücklichen Land gefühlt. Die Begegnung mit ausgeglichen und fröhlich wirkenden Menschen hat mich beeindruckt, aber auch zum Nachdenken gebracht.
Das persönliche Glücksdiagramm
Die Frage lautet nun, inwiefern mich diese Informationen als „Glücksuchende“ in meinem Leben weiterbringen. Welche Antworten findet man dazu in „Der Glücksstandard“? In diesem (sehr empfehlenswerten) Buch, erfährt man wie ein „Glückstandard“ durch einfache Übungen erreicht werden kann. Ein Beispiel ist das Konzept des guten Gebrauchs der Zeit. Hier werden Journaling, Atemübungen und meditative Übungen als Methoden vorgestellt. Es hat mich dazu angeregt, es selbst einmal mit dem Journaling zu versuchen. Diese kleine tägliche Übung beschert mir intensiv erlebte Zeit mit mir selbst. Ich beschäftige mich mit meinen Gedanken, die vor meinen Augen lebendig werden. Meine Begeisterung ist so groß, dass ich plane, hierzu bald einen eigenen Artikel zu schreiben. Wir alle schätzen die Zeit, die wir in Gemeinschaft bewusst mit Freunden oder in der Familie verbringen. Es klingt so selbstverständlich, findet aber oft schlichtweg nicht mehr statt, weil es der persönliche Lebensrhythmus nicht mehr zulässt. Aktuell kommt natürlich auch Corona erschwerend hinzu. Öfter gemeinsame Zeit einplanen erhöht unseren Glückstandard erheblich. Wer gerne kocht und seine Speisen liebt wird achtsam mit dem Essen umgehen, genießen und sicher bestätigen, dass dies auch ein Teil ihres „persönlichen Glücks“ ist.
Auf meiner Reise durch Buthan habe ich die schönen Stoffe, deren Farben, Material und handwerklich hochwertige Anfertigung bewundert. Noch heute ärgere ich mich darüber, dass ich die wunderschön bestickte Tagesdecke, die mir in einer Weberei angeboten wurde, nicht gekauft habe. Im Museum für Textilkunst (The Royal Textile Academy of Buthan) in der Hauptstadt Thimphu, einem modernen und architektonisch besonderen Bau, findet man viele Beispiele für textile Handwerkskunst Buthans.
Es würde zu weit führen, hier alle 9 Glücksdomainen, die im Buch geschildert werden, im Detail zu erläutern, aber Dr. Has Gedanken über Tiefenentspannung, seine Aussagen über Selbstfürsorge und lebenslanges Lernen sind in eingängig und für jeden Nachvollziehbar. Zu den schwierigsten Aufgaben gehört es, komplexe Dinge einfach darzustellen. Hier gelang es in einer Art Handbuch für ein glückliches Leben, ohne jede Dogmatik, religiöse oder parteipolitische Manipulation zu verfassen. Es sind die vielfältigen Erkenntnisse eines gebildeten, weltoffenen Philantropen und pragmatischen, glücklichen Menschen.
Von meinem Besuch Bhutans kam ich reich gefüllt mit Sinneseindrücken der kulturellen Vielfalt, der lebendigen Gemeinschaft und der Ahnung von einem anderen Verständnis für den Gebrauch der Zeit, zurück. Für Tiefenentspannung müssen wir aktiv selbst etwas tun, aber die tiefe Ruhe und Zufriedenheit der Menschen lässt erahnen, dass sich diese Übung lohnt, um ein Stück auf dem Weg zum persönlichen Glück voran zu kommen und damit auch zum Bruttonationalglück beizutragen. Übrigens gibt es auch in Deutschland ein Ministerium für Glück, wovon man sicher gerne etwas mehr hören würde.